von Christine Schubarth, ein Buch mit textilen Beziehungsfossilien. Empfehlenswert.
Auf Tuchfühlung: Ertastbare Erinnerungen
Urs Heck
Als Gründer und Konservator des Museums für Beziehungsfossilien mfbf mache ich seit 1993 immer wieder die gleiche Beobachtung:
Objekte, denen man unmittelbar begegnet, haben einen besonderen Reiz. Sie wirken mit ihrer Präsenz auf allen Sinnesebenen gleichzeitig und können Erinnerungen auslösen, weil neben Bewusstem auch Unbewusstes angesprochen wird. Das trifft insbesondere auf Beziehungsfossilien zu.
beziehungsfossilien sind Objekte, Überreste längst vergangener Beziehungen. Sie erinnern an frühere Lebenssituationen, an Menschen, Wünsche, Ansichten, Einstellungen und einstige Gedankenblitze. Auch Personen mit Demenzerkrankungen reagieren oft stark auf Beziehungsfossilien. Der Zugang zu Erinnerungen ist vielfältig ist. Im therapeutischen Kontext hat Dr. Andreas Bürgi, langjähriger Berufsberater und Psychologe, Beziehungsfossilien eingesetzt: ,Sie lassen sich für die Aufarbeitung vergangener Traumata und für die Gestaltung der Zukunft des Klienten nutzen. Insbesondere können sie verborgene Ressourcen und vergessene Stärken zu Tage fördern’ . Es ist anzunehmen, dass Beziehungsfossilien auch in der Hypnose als hypnotherapeutische Anker für Erinnerungen wirken.
Die Objekte, die Christine Schubarth in ihrem Buch ,Auf Tuchfühlung’ vorstellt, sind Beziehungsfossilien. Dabei handelt es sich um Textilien und Bekleidungsstücke. Beim Lesen gerät man nicht nur im übertragenen Sinne auf Tuchfühlung mit ihr, ihrer Familie, ja, einer ganzen Zeitepoche (1950-70), sondern, soweit einem selbst bekannt, liefern einem die eigenen Erinnerungen auch die konkreten, nachfühlbaren Erfahrungen mit den erwähnten Stoffen, quasi haptische Erinnerungen.
Das hat den faszinierenden Effekt, dass sich die textilen mit den textlichen Stoffen vermischen und ein äusserst lebendiges Gewebe der geschilderten Zeit und der persönlichen Zeiterfahrung der Autorin vermitteln.
Verstärkt wird diese Wirkung durch wechselnde Erzählformen. Die einzelnen Geschichten rund um die Bekleidungsstücke und die damit verbundenen Familienepisoden erzählt die Autorin in Ich-Form. Dazwischen sind immer wieder Passagen in der dritten Form eingestreut: Schubarth spricht hier von Mädchen, Mutter, Vater, Bruder und beschreibt Stimmungen, Lebensgefühl und Gedanken. Spannend, wie die leichte Distanz diese Texte umso direkter und emotionaler wirken lässt.
‘Auf Tuchfühlung’ ist nicht nur eindrückliche Schilderung einer vergangenen Zeit, sondern auch Aufarbeitung und Deutungsversuch: Wie hängen Schubarths Kindheitserfahrungen mit der nationalsozialistischen Erziehung und dem Kriegstrauma ihrer Eltern zusammen? Die Autorin stellt diese Fragen einfühlsam und kompetent.
Lesenswert!
Christine Schubarth: Auf Tuchfühlung. Kleidergeschichten aus den 50er und 60er Jahren. Berlin:Texte und Textilien, 2022. ISBN 987-3-948255-30-5